Afghanische Online-Uni: „Studentinnen Perspektiven geben“

Frankfurter Rundschau (05.01.2023)

In Afghanistan dürfen Frauen keine Universitäten mehr besuchen. Kambiz Ghawami, Vorsitzender des „World University Service“, wirbt für eine afghanische Online-Uni

Herr Ghawami, die Empörung im Westen war groß, als die Taliban im Dezember den Frauen den Besuch von Universitäten verboten. Macht es das leichter, für Ihr Vorhaben einer afghanischen Online-Universität zu werben?

Ja, die Empörung ist groß. Aber außer schönen Worten haben wir bis heute keine konkreten Taten erlebt. Die internationale Gemeinschaft hat ein Jahr lang tatenlos zugesehen. Das ist, was viele Afghaninnen und Afghanen bemängeln. Taten fehlen, um den Studentinnen Perspektiven zu geben.

Welche Möglichkeiten haben afghanische Frauen derzeit zum Studieren?

In Afghanistan überhaupt keine mehr. Es gibt dort staatliche und private Universitäten. An den privaten Universitäten waren in den vergangenen Jahren vorwiegend Studentinnen eingeschrieben. Mittlerweile erhalten wir Nachrichten von einigen dieser Hochschulen, dass sie pleite sind, weil jetzt die Klientel fehlt.

Wie sieht es mit dem wissenschaftlichen Personal aus?

Das kann man quasi an zwei Händen abzählen. Die Mehrzahl ist entweder ins Exil gegangen oder hat den Dienst quittiert. Die Vorlesungen halten jetzt häufig Taliban-Anhänger ohne große inhaltliche Kenntnisse, zum Beispiel Bachelor-Absolventen.

Wie könnte eine afghanische Online-Universität funktionieren?

Die Taliban hatten die Bildungsinhalte schon in ihrer ersten Herrschaftsperiode von 1997 bis 2001 komplett nach der Scharia ausgerichtet. Als sie im August 2021 erneut die Herrschaft übernahmen, war für uns klar, dass wir alternative Bildungsmöglichkeiten brauchen. Inzwischen gibt es die technischen Online-Möglichkeiten und die Erfahrungen, die wir damit während der Pandemie gesammelt haben. Das wollen wir uns zunutze machen.

Welche Fächer könnten angeboten werden?

Besonders wichtig erscheinen uns die Geistes- und Sozialwissenschaften, die schon im Oktober 2021 von den Taliban verboten wurden. Seitdem sollten in Afghanistan nur noch Medizin und technische Fächer Vorlesungen angeboten werden.

An wen richtet sich eine solche Online-Universität?

Wir zielen darauf, dass Studienmöglichkeiten innerhalb Afghanistans angeboten werden, insbesondere für Studentinnen. Unsere zweite Zielgruppe sind die jungen Menschen in den Flüchtlingslagern in den afghanischen Nachbarstaaten.

Gibt es denn Internetzugang in Afghanistan?

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Wir werden die Menschen in den Bergregionen nicht erreichen können, denn es gibt nur in den größeren Städten Strom und Internetanschluss. Außerdem wissen wir, dass die Chinesen dabei sind, das afghanische Internet technisch so umzubauen, dass es zensierbar ist. Aber wir haben auch in China die Erfahrung gemacht, dass junge kreative Köpfe Zensurmauern umgehen können. Das sind die Menschen, die den Wandel in Afghanistan herbeiführen können. Ich bin der Überzeugung, dass es nur von innen heraus eine Veränderung in Afghanistan geben wird.

Würden Studiengebühren erhoben?

Wir arbeiten bewusst ohne Studiengebühren, weil wir davon ausgehen, dass sich das weder die Familien in Afghanistan noch die Familien in den Flüchtlingslagern leisten können.

Wer könnte unterrichten?

Die Lehre und Forschung könnte zum großen Teil von afghanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Exil angeboten werden. Wir wollen ihre Kompetenzen nutzen, damit sie nicht hier als Taxifahrer oder Pizzabäcker arbeiten müssen. Unsere Hoffnung ist, dass sie ihre wissenschaftliche Berufstätigkeit künftig in einem demokratischen Afghanistan fortsetzen können.

Wer soll die Online-Universität finanzieren?

Wir haben Anfragen bei der Europäischen Kommission und bei der Bundesregierung gestellt. Bei der Bundesregierung tut man sich schwer mit der Zuständigkeitsfrage, ob das Auswärtige Amt, das Entwicklungs- oder das Bildungsministerium die Federführung übernehmen könnte. Auf europäischer Ebene gibt es, auf Initiative von Nicola Beer, Vizepräsidentin des Europaparlaments, einen Beschluss des Europaparlaments, das unser Vorhaben parteiübergreifend unterstützt hat. Es gab auch Gespräche mit der Europäischen Kommission. Wir hoffen auf Berücksichtigung im EU-Haushalt. Kanada hat Unterstützung signalisiert, wenn sich andere Geldgeber beteiligen.

Wo hätte die Hochschule ihren Sitz und ihre Verwaltung?

Der Sitz kann im Prinzip überall auf der Welt sein. Bisher haben wir einen Sitz im Rhein-Main-Gebiet ins Auge gefasst. Hier gibt es ein internationales Netzwerk, gute Internetverbindungen und ein vernünftiges Hochschulgesetz. Aber diese Entscheidung steht noch aus.

Wer hat das Konzept entwickelt?

Professor Ulrich Teichler war lange der Leiter des Hochschulinstituts an der Universität Kassel und ist mittlerweile emeritiert. Wir hatten ihn gebeten, die Konzeption mit aufzubauen, genauso wie der erste Präsident der vietnamesisch-deutschen Universität, Professor Wolf Rieck. Es waren Hochschulfachleute aus Kanada, Großbritannien, Frankreich, Österreich dabei. Die wesentlichen Aktivitäten wurden und werden aber von Afghanen selbst geleitet, etwa der Aufbau einer Homepage für die Universität, die von Professor Kawa Nazemi von der Hochschule Darmstadt entwickelt wurde.

Gibt es Interesse von Partneruniversitäten?

Wir waren überrascht, wie viele Hochschulen sich von sich aus bei uns gemeldet haben und anbieten, Studiengänge zu übernehmen. Nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich, aus Kanada und vielen anderen Ländern. Wir sind bisher nicht aktiv auf mögliche Partnerhochschulen zugegangen, weil wir immer noch auf eine klare Finanzierungszusage warten.

Zur Person

Kambiz Ghawami, Betriebswirt und promovierter Jurist, ist Vorsitzender des World University Service (WUS) mit Sitz in Wiesbaden. Das 1920 gegründete internationale Netzwerk hat zum Ziel, das Menschenrecht auf Bildung zu verwirklichen.

Erstellt: 05.01.2023 Aktualisiert: 05.01.2023, 17:12 Uhr

Von: Pitt v. Bebenburg